Du bist dran (Hands Off)

Im 17. Jahrhundert hat der Schuster noch alles gemacht, von der Sohle über die Schnüre bis hin zum Leder gerben. Durch die industrielle Revolution wurde der Entwicklungs- und Entstehungsprozess immer kleinteiliger und man hat gelernt, in Prozessschritten, Rollen und Verantwortlichkeiten zu arbeiten. Nicht das Team ist für den Erfolg verantwortlich, sondern der Einzelne für das Ergebnis seines Arbeitsschrittes.

Quelle: eigene Darstellung

So kommt es vor, dass Spezialisten zwei Wochen in den Urlaub gehen und Themen aus Effizienz liegen bleiben. Eine Übergabe ist dann nicht effizient. „Das kann nur der machen. Dann müsste ich einen Mitarbeiter aus einem anderen Bereich für diese Zeit abziehen, um sich in das Thema einzuarbeiten.“

Wir arbeiten heute viel in Rollen und vordefinierten Verantwortungsbereichen mit klaren Strukturen und Abteilungen, in denen sich die Mitarbeiter bewegen. Der heutige Fokus liegt auf den Rollen, weniger auf den zu erledigenden Aufgaben. Dadurch entwickeln sich Experten in Rollen, die ihr Wissen nicht mehr vermehren müssen. Im Gegenteil, um Anerkennung zu bekommen und zu behalten, teilen sie ihr Wissen vielleicht auch nur ungern. Dies ist eine Form von Résumé Driven Development und konzentriert Wissen auf einzelne Mitarbeiter. Wir stellen heute fest, dass unsere Erfahrungen und unser Wissen nicht mehr den Ausschlag geben, um Probleme in der heutigen Zeit zu bewältigen, denn wir leben in der sogenannten VUCA-Welt, die sich nicht mehr an der bisher herrschenden, eher traditionellen Dynamik und Rahmenbedingungen hält.

VUCA definiert sich über:

  • Volatilität (volatility): die häufige und umfassende Veränderung des Marktumfeldes.
  • Ungewissheit (uncertainty): Marktentwicklungen für die Zukunft können nicht vorausgesagt werden.
  • Komplexität (complexity): Das Geschäftsumfeld besteht aus vielen unbekannten Komponenten.
  • Ambiguität (ambiguity): Jede Information kann auch verschiedene Art und Weise gedeutet werden.

VUCA kommt aus der US-Army und wurde in den 90er-Jahren entwickelt. Im US-Army War College wurden mit VUCA die Veränderungen nach der Beendigung des Kalten Krieges beschrieben. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte das Militär in Amerika plötzlich keinen Feind mehr. Dadurch kam es zum Verlust der Orientierung und Veränderungen in der Struktur des Militärs. Daraus resultierend änderten sich auch die Sichtweise und die Reaktionen.

Die Volatilität

Die Volatilität beinhaltet die Veränderungen im Marktumfeld, die sich häufig und stark verändern. Veränderungen geschehen häufig durch neue Technologien, Regeln oder aktuellen Trends. Daraus entstehen meist neue Mitbewerber, substituierende Produkte und Produktlebenszyklen, die immer kürzer werden. Neue Technologien verändern immer auch die Bedürfnisse und Erwartungen von Kunden. Nehmen wir das Beispiel Smartphone als Basis, so weiß inzwischen jeder, dass seit der Einführung von Smartphone & Co. eine Immer-online-Gesellschaft entstanden ist. Die Customer Experience beruht darauf, dass das Internet immer und überall verfügbar ist, was auch für die daraus resultierenden Informationen und Funktionen gilt.

Unsicherheit

Marktanalysen verlieren immer mehr an Bedeutung, weil die Produktlebenszyklen heute stetig kürzer werden, sowie durch Globalisierung und Digitalisierung der Markt verstärkt undurchschaubar wird. Quantitative Grundlagen für Entscheidungen werden daher kaum mehr benötigt und helfen häufig nicht mehr dabei, eine gute Entscheidung treffen zu können. Führungskräfte und Entscheider können sich auf traditionelle und bisher nützliche Entscheidungsprozesse nicht mehr verlassen. Dadurch steigt der Druck auf die Führungskräfte oder andere Entscheider. Das Gleiche gilt für Unternehmen, da sie schnell auf Veränderungen auf dem Markt und innerhalb der Gesellschaft reagieren müssen. Es besteht daher die Notwendigkeit, viele grundsätzliche Fragen bereits im Vorfeld zu klären. Das können etwa sein:

  • Wie lange kann oder wird das Geschäftsmodell funktionieren?
  • Welche Technologie ist für uns am besten geeignet?
  • Was ist unser Alleinstellungsmerkmal?
  • Wie können wir mit günstigeren Mitbewerbern aus Drittländern konkurrieren?
  • Welche Mitarbeiter mit welchen Berufen benötigen wir?

Besonders gefährlich sind disruptive, also das Gleichgewicht oder System zerstörende Innovationen. Sie laufen meist schleichend ab und werden zunächst belächelt und unterschätzt. Stellt sich in weiterer Folge ein Erfolg ein, nimmt die Unsicherheit ab und die Unternehmensdynamik nimmt Fahrt auf. MeToo-Produkte, also Produkte, die als Nachahmung von innovativen Originalprodukten abgeschaut werden, werden meist unter hohem Druck entwickelt. Eine große Herausforderung für Menschen und Unternehmen ist es, mit der beschriebenen Unsicherheit umzugehen. ‘Sicherheit in der Unsicherheit finden’ ist ein großes Thema unserer Zeit.

Komplexität

Neue Regeln auf dem Markt, Märkte, die immer globaler werden, neue Technologien und Mitbewerber sowie sich ständig wandelnde Kundenanforderungen führen zu Veränderungen auf der Welt, die kaum noch überschaubar sind. Mit jedem Tag, der vergeht, wird es schwieriger Ursache und Wirkung der einzelnen Entwicklungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, nachzuvollziehen. Alle Veränderungen finden gleichzeitig auf den verschiedensten Ebenen statt. In der Regel auf zu vielen Ebenen. Das Geflecht wird zunehmend für Führungskräfte immer undurchschaubarer. Strömungen, Reaktionen und Wechselwirkungen auf den unterschiedlichsten Ebenen bewirken, dass Führungskräfte zunehmend den Einfluss auf das System verlieren.

Viele Unternehmen bemerken gar nicht, dass sie dieser Entwicklung mit noch mehr Komplexität begegnen. Um die Qualität der Arbeit zu steigern, werden die einzelnen Tätigkeiten in viele kleine Aufgaben aufgeteilt. Damit diese kleinen Aufgaben gemanagt werden können, bildet man Experten aus, die hoch spezialisiert sein müssen. Diese Experten werden dann wieder von Managern geführt. Das verursacht einen Aufwand, der selten in einem Verhältnis zu Wirksamkeit steht. Das Einzige, was passiert ist, die Struktur und Organisation des Unternehmens wird immer komplexer.

Damit der Umsatz im Unternehmen steigt, wird das Portfolio an Leistungen und Produkten häufig gesteigert. Dabei wird vergessen, dass jedes einzelne Produkt oder Dienstleistung extra geplant, entwickelt und anschließend vermarktet werden muss. Dadurch werden die Produkte komplexer.

Damit Produkte und Dienstleistungen schneller fertig werden, wird versucht, die Geschwindigkeit der Arbeiten zu erhöhen. Werden die Termine jedoch nach vorn verlegt, führt das meist dazu, dass Planungen nachlässig vorgenommen werden oder Standards ganz vernachlässigt werden. Damit steigt die Komplexität der Prozesse.

Die Prognosen von Führungskräften in Bezug auf den Erfolg und die Auswirkung von Neuerungen in einer Umgebung, die immer komplexer wird, werden zunehmend schwieriger vorherzusagen sein. Viele Führungskräfte befürchten darüber hinaus, bei einem Fehler ihre Karriere zu riskieren. Das ist der Grund, warum viele Führungskräfte an bestehenden, bekannten und bewährten Prozessen und Lösungen festhalten, die nicht mehr zu der sich ständig ändernden und komplexer werdenden Umgebung passen. Dadurch sinkt die Innovationskraft des Unternehmens und das Unternehmen kann sich nicht weiterentwickeln. So wird langfristig der Erfolg des Unternehmens gefährdet.

Ambiguität

Jede Information kann mehrdeutig sein, denn durch die sich ständig verändernden Rahmenbedingungen eines komplexen Marktumfelds können Informationen nicht mehr nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip linear gedeutet werden. Die verschiedenen möglichen Interpretationen bergen das Risiko, zu falschen Entscheidungen zu kommen und auf Konsens basierende Entscheidungsfindungsprozesse benötigen überproportional viel Zeit, da die Beteiligten aus den vorliegenden Informationen teilweise sehr unterschiedliche Schlüsse ziehen. Dadurch ergibt sich für die Führungskräfte ein nicht zu übersehendes Problem. Die Karriere kann durch eine falsche Entscheidung gefährdet sein, dem Unternehmen entsteht ein nicht wiedergutzumachender Schaden und die Unternehmensentwicklung stagniert. Deshalb werden häufig keine strategischen Maßnahmen ergriffen, obwohl diese nötig wären.

Das Rollenmodell in der Entwicklung

Um in der VUCA-Welt marktfähig zu bleiben oder gar eine marktführende Position einzunehmen, werden also neue und innovative Ansätze benötigt – auch uns insbesondere bei der Art, wie wir Rollen in Unternehmen definieren und ausgestalten. Klassische Rollenmodelle können durch ihr Silodenken nicht mehr den modernen Ansprüchen genügen. In der Entwicklung existiert das klassische Rollenmodell noch heute. Es gibt Requirements Engineers, die die Anforderungen des Kunden aufschreiben und diese an die Designer übergeben, die wiederum ihr Design an Softwareentwickler übergeben, die ihre erweiterte Software dann an die Software Tester übergeben. Durch die vielen Übergänge und Schnittstellen kommt es zu Unstimmigkeiten oder Interpretationsspielraum, die behoben werden müssen. Sollte einer der Verhandlungspartner gerade abwesend sein, entsteht Waste, denn die weiteren Beteiligten müssen warten, widmen sich anderen Aufgaben (Task Switching) oder arbeiten mit nicht aktuellen Informationen weiter, was zu Nacharbeit und Korrektur führen kann. Im klassischen Modell ist die Lösung, dass einzelne Rollen noch besser ausgebildet werden, Requirements noch besser formuliert werden, damit sie von möglichst allen verstanden werden. Der Waste wird reduziert, die Ursache bleibt erhalten. Sollte einer der Verhandlungspartner gerade abwesend sein, entsteht Waste, denn die weiteren Beteiligten müssen warten, widmen sich anderen Aufgaben (Task Switching) oder arbeiten mit nicht aktuellen Informationen weiter, was zu Nacharbeit und Korrektur führen kann.

Wir kennen den Ausdruck ‚etwas über den Zaun werfen‘, dieser beschreibt umgangssprachlich, was wir im Agilen nicht mehr wollen. Im Agilen Ansatz arbeiten wir in crossfunktionalen Teams gemeinsam an Produkten und Dienstleistungen und teilen das vorhandene Wissen.

Das bedeutet, dass jede benötigte Rolle gleichzeitig in einem Team an der Umsetzung der Kundenanforderung arbeitet. Waste durch Prozessgrenzen wird eliminiert. Von der Idee über das Design bis hin zur Umsetzung und den Tests sind alle an allen Arbeitsschritten beteiligt. Durch agile Methoden, die aktiv Knowledge Sharing betreiben und von Anfang an alle Teammitglieder in dem Entstehungsprozess involvieren, wird Hands off bestmöglich vermieden. Der Systemoutput wird maximiert, die einzelne Rolle degradiert.

Um nicht falsch verstanden zu werden, weisen wir darauf hin, dass Experten weiterhin benötigt werden. Es ist vielmehr ein Aufruf, um starke Rollen und Grenzen (z. B. Abteilungen) abzubauen.

Die Potenziale und Interessen der Mitarbeiter werden vermehrt genutzt. Intrinsisch motiviert werden Aufgaben übernommen und neue Kenntnisse erworben sowie eingesetzt. Eine ständige Weiterentwicklung der Mitarbeiter erfolgt automatisch.

In High Performance Teams, die wir begleiten, führen Urlaube und Krankheiten zu fast keiner Reduzierung des Outputs. Es gibt keine Wartezeiten in der Bearbeitung von Arbeitspaketen. Letztere können als Ganzes vom Team bearbeitet werden, ohne dass größere Abhängigkeiten bestehen. Diese Teams verfügen über eine große Wissenstransparenz und tauschen sich mindestens einmal im Monat offen über neue Erkenntnisse aus. Durch das frühzeitige Einbeziehen aller Beteiligten in den Entwicklungsprozess gelingt es, Wissen für alle transparent darzustellen, sich auf den Kundennutzen zu fokussieren und stets die optimale Lösung zu wählen.

Wir empfehlen verschiedene Tools zur Visualisierung von Wissen sowie zur Visualisierung von Arbeitspaketen, die miteinander interagieren.

#Kurzgesagt

  • Kommunikation ist essenziell
  • reduziere das Übergeben von Arbeitspaketen
  • etabliere crossfunktionale Teams mit einem 100 % Fokus
  • etabliere und fördere Knowledge Sharing
  • fördere eine Sharing Culture
  • beteilige das Team am Erfolg des Produktes
  • denke in Aufgaben und Kompetenzen nicht in Rollen
  • nutze ein Wiki
  • sei transparent
Thomas

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